Antifaschistischer Stadtrundgang zum 9.11.2005

Am Abend des 9.11. fand aus Anlass des Jahrestags der Reichspogromnacht in Essen ein antifaschistischer Stadtrundgang statt. Es beteiligten sich rund 100 Personen. Während der Veranstaltung wurden mehrere Reden gehalten und an verschiedenen Stellen Transparente und symbolische Gedenktafeln aufgehängt.

Synagoge

Redebeitrag der Antifa Essen

Liebe Essenerinnen und Essener,

wir haben uns heute hier versammelt, um an die Novemberpogrome gegen Jüdinnen und Juden in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zu erinnern.

In dieser Nacht kam es im gesamten nationalsozialistischen Deutschland zu Pogromen. Über tausend Synagogen wurden abgebrannt, mindestens 8000 jüdische Geschäfte zerstört sowie zahllose Wohnungen verwüstet. Zwischen 90 und 100 Jüdinnen und Juden wurden von organisierten SA- bzw. SS-Einheiten und dem aufgehetzten Mob ermordet, unzählige misshandelt und verletzt. Die Sachschäden an zerstörten Geschäftseinrichtungen und Schaufensterscheiben in Millionenhöhe waren vor dem Hintergrund dieser akuten Lebensgefahr für Jüdinnen und Juden zwar zweitrangig, zerstörten aber nichtsdestotrotz deren finanzielle Lebensgrundlage.

Das alles wurde im Volksmund bald mit dem Begriff „Reichskristallnacht“ verharmlost. Dass dahinter der organisierte Wille zur Diskriminierung und Verfolgung der ansässigen Juden und Jüdinnen steckte, bewiesen die folgenden Tage. Zunächst wurden im ganzen deutschen Reich etwa 30.000 jüdische Menschen verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Mehrere Hundert dieser Deportierten starben in der folgenden Lagerhaft. Die Zerstörung von Synagogen, Geschäften und Wohnungen blieb zwar zunächst auf wenige Wochen beschränkt, war allerdings nur der Auftakt zu weiteren Drangsalierungen. Diese bedeuteten die Vernichtung des Lebensraumes und eine Katastrophe für die finanzielle und soziale Existenz vieler jüdischer Bürger. Das verharmlosend als „Reichskristallnacht“ bezeichnete Pogrom war der Auftakt der antisemitischen Verfolgung, die im industriellen Massenmord, der Shoa, endete.

Gleichzeitig wies das Reichsjustizministerium die Staatsanwälte an, keine Ermittlungen in Sachen der so genannten „Judenaktion“ (also der Pogrome) vorzunehmen. Das Novemberpogrom traf in Essen eine jüdische Gemeinde, die schon seit 1933 unter der antisemitischen Verfolgung und den strukturellen wirtschaftlichen Restriktionen litt. Die Repressionen und Einschüchterungen gegen jüdische Grossunternehmen (wie z.B. die Essener Eisen- und Metallwarengroßhandlung Max Stern oder das Bankhaus Simon Hirschland) aber auch gegen Mittelständische- und Kleinstbetriebe wurden von der Gestapo besonders seit 1937 forciert.

Die örtlichen NS-Gruppen erhielten kurz nach Mitternacht die Anweisungen zur Brandschatzung der alten Synagoge (in der Nähe der Porschekanzel), der Steeler Synagoge, sowie des erst kurz vorher errichteten jüdischen Jugendhauses des Architekten E. Mendelssohn, in Essen – Huttrop. Die Reaktion der Bevölkerung auf die Pogromnacht und das bürokratische Nachspiel waren unterschiedlich. Vom Schweigen der Mehrheit der Bevölkerung ermutigt, beteiligten sich Teile der Essener Bürger und Bürgerinnen an Brandschatzungen und Plünderungen. Uneinigkeit löste vor allen Dingen die sinnlose Zerstörung materieller Werte in Millionenhöhe aus, weniger Kritik ernteten die brutalen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Dieses bedeutete aber umgekehrt nicht, dass sich nicht eine relativ große Zahl der BürgerInnen an dem Beutezug beteiligte und sich so genannte „arisierte Ware“ aneignete. Nur die wenigsten zeigten Mitgefühl oder boten direkte Hilfe für die gepeinigten und drangsalierten jüdischen Mitbürger an.

Doch nicht nur Gebäude mit symbolischen Charakter, sondern auch Wohnhäuser und Geschäfte der jüdischen Bevölkerung wurden geplündert oder gebrandschatzt. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Rolle der Essener Feuerwehr. Die Anweisungen der GeStaPo an die Feuerwehren im gesamten nationalsozialistischen Deutschland sahen vor, nur benachbarte Gebäude vor einem Übergreifen der Flammen zu schützen. Aus den für Essen vorliegenden Akten ergibt sich jedoch eine Mitverantwortung der Essener Feuerwehr, die weit über das in jener Nacht Übliche hinausreicht. Dieses verdeutlicht ein überlieferter Spruch, der innerhalb der Essener Bevölkerung für das Verhalten der Feuerwehr in der Pogromnacht steht: „Die Feuerwehr hat den Brand mit Benzin gelöscht.“ Am Abend des 10. Novembers fand eine Versammlung der Ortsgruppenleiter der NSDAP statt, in der eine vorläufige Bilanz der vergangenen Nacht gezogen wurde. Die Namen der wenigen jüdischen Geschäfte, die die Nacht überstanden hatten, wurden den jeweiligen Ortsgruppen der NSDAP mitgeteilt und noch am selben Abend zerstört.

Doch das Pogrom richtete sich nicht nur gegen jüdische Einrichtungen, sondern auch gezielt gegen die jüdische Bevölkerung Essens. Viele wurden psychisch und physisch gequält, festgenommen und in KZ abtransportiert. Alle Spuren der jüdischen Gemeinde sollten in der Folge der Pogromnacht beseitigt werden. So wurde das Jugendzentrum abgerissen und auf dem Gelände ein Parkplatz und eine Grünanlage errichtet. Ebenso wurde die Steeler Synagoge abgerissen. Nur im Fall der alten Synagoge scheiterte das Vorhaben an den hohen Kosten für den Abriss. Im gesamten Zeitraum von 1933 (als eine Volkszählung noch ca. 5100 Menschen jüdischen Glaubensbekenntnisses ermittelte) bis 1945, wurden etwa 2500 jüdische Menschen aus Essen ermordet.

Mit dieser Veranstaltung heute Abend ist es unser Anliegen, den Ereignissen in der Pogromnacht zu gedenken.

Wir möchten an dieser Stelle den Opfern der Shoa gedenken und dem Schwur, den die Überlebenden Buchenwalds sich gaben: Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.

Nie wieder Antisemitismus, nie wieder Faschismus!